Segeln um die Welt - Bild Segeln um die Welt - Bild Segeln um die Welt - Bild Segeln um die Welt - Bild Segeln um die Welt - Bild Segeln um die Welt - Bild


Betrachtungen zur Seekrankheit.

Eine HNO-Ärztin hat mich mal aufgeklärt, mit welchen Organen wir das Gleichgewicht wahrnehmen. Da gibt es bekanntlich die drei Bögen im Ohr. Dann sind es viele Muskeln, vor allem die im Nacken, aber auch die, bis hinunter zu den Zehen – sie alle melden ans Gehirn, ob sie spannen oder locker sind, ob sie in Spannung gehen oder darin nachlassen, damit es uns nicht hinhaut. Und dann das Auge. Es hat eine sehr oberflächliche Wahrnehmung und ist sehr leicht zu täuschen, aber es ist blitzschnell. Ich vermute, das Auge sieht längst, ehe die Muskeln es spüren. Es sieht ja schon die nächste Welle, ehe das Schiff sich überhaupt noch bewegt deswegen! Das Auge sieht sozusagen in die Zukunft – ein Sensor dieser Art, kann jedem Regeltechniker Freude machen. In jedem Fall, wir sind sehr geübt darin, dem Auge zu vertrauen.

Das Auge scheint mir hohe Autorität zu haben an jener Schaltstelle im Gehirn, wo alle Meldungen von außen ankommen. Stell dich mal auf ein Bein. Wenn du dich mit dem Auge an einen festen Punkt in deinem Blickfeld heftest, wirst du gut stehen. Nun schließe die Augen. Wahrscheinlich schaffst du es mit den Muskeln alleine nicht, im Gleichgewicht zu bleiben. Sie sind – wenn du nicht geübt bist – zu langsam.

Die drei Bögen im Ohr scheinen mir am allerträgesten zu sein, jedenfalls dürften sie im Hirn wenig Autorität haben, um im ersten „Augen-Blick" auf erkanntes Ungleichgewicht ausgleichende Reaktionen zu veranlassen. Denn wenn ich den Kopf mitsamt den Ohren neige, falle ich noch lange nicht hin. Das Problem scheint mir dann zu eskalieren, wenn das Auge was anderes meldet als die Muskeln.

Sitze ich angelehnt im Salon unter Deck, so bewegt sich fürs Auge so gut wie nichts (von herabhängenden Gegenständen mal abgesehen). Die Muskeln hingegen verspüren jede Änderung von Richtung und Größe, mit der Schwerkraft plus Beschleunigungskräfte infolge Schiffsbewegung auf den Körper wirken. Das gibt für jene Stelle im Gehirn, das die Wahrnehmungen der drei Sensoren deuten soll, eine ungewöhnliche Mehrdeutigkeit, eine Orientierungslosigkeit. Eine Art Verzweiflung kommt auf, der die Werkzeuge der Logik nicht beikommen können. Das dürfte sich wohl alles im Stammhirn abspielen, jenem alten Gehirnteil, wo nicht die Logik sitzt und wohin sie auch keinen Draht hat.

Stehe ich hingegen an Deck, möglichst mittschiffs, und nehme die feste Umgebung als sich relativ zum Schiff bewegend wahr, (den Horizont zum Beispiel), dann wird einem erfahrungsgemäß nicht so leicht schlecht. Hier hat das Auge differenziertere Wahrnehmungen, deren Deutung dem Gehirn „offensichtlich“ leichter möglich ist.

Warum es schließlich zum Kotzen kommt (warum nicht Haarausfall, Ohrensausen, Schüttelfrost, Bockerlfraisen oder Knieschlottern?) ist eine Frage, der ich noch nicht so nachgegangen bin. Es scheint mir nicht so bedeutungsvoll zu sein. Sehr sicher ist allerdings, dass an dieser Stelle Seelenzustände, die von anderswo hier hereinkommen, verstärkend oder schwächend auf die Kotzneigung Einfluss nehmen. Abgesehen von seelischen Grundkonzeptionen, oder länger dauernden Ausnahmezuständen, auf die an Bord erst einzugehen, es zu spät ist, spielt meines Erachtens auch die Besonderheit der augenblicklichen Situation des betreffenden Menschen eine Rolle. Und auf die kann ein umsichtiger Schiffsführer eingehen, bzw. ich kann versuchen mir selber klar zu werden:

Wo ist mein Platz an Bord, was habe ich für Aufgaben, wo ist mein Platz in der Gruppe, was geschieht, wenn ich über Bord gehe, wo sind Rettungsweste und Lifebelt, ist das Boot wirklich unkenterbar?

Das kopfige Wissen darüber hilft wahrscheinlich wenig. Es muss wirklich verinnerlicht sein, die Stimmung an Bord muss friedlich sein, Ruhe ausstrahlen. Schelten, meckern, übelnehmen, beleidigt sein, raunzen, motzen, – das ist sicher schlecht, auch was die Seekrankheit angeht. Positiv gesagt: die Gegebenheiten und den anderen Menschen nehmen wie sie/er/es ist, ihn/sie/es schätzen und gern haben, Löbliches loben, Wunderbares bewundern, Erstaunliches bestaunen, Fehler wahrnehmen, wenn geht akzeptieren, in jedem Fall verzeihen, Fähigkeiten wertschätzen, einander Vertrauen leihen und schenken usw. Und so auch sich selbst anschauen und behandeln! Einfach wahrnehmen, was ist und schauen, was ich daraus an Positivem nehmen oder machen kann – das wäre so meine Empfehlung.

Jene Stelle im Gehirn, wo die verschiedenen Wahrnehmungen der drei genannten Sensoren gedeutet werden, ist lernfähig – ich habe es erlebt, nach drei Tagen war es vorbei mit der Übelkeit. Ich konnte die Tabletten absetzen.

Und die andere Erfahrung: Ich habe einen Menschen kennen gelernt, der ist ganz schnell damit gewesen, jede Wahrnehmung zu bewerten, nach dem Geldwert oder nach irgendwelchen moralisch-gesellschaftlichen Normen, die er griffbereit im Hinterkopf hatte. Meist hat er jene herausgegriffen, die es ihm erlaubten, den aktuellen Zustand negativ zu beurteilen: Das ist viel zu teuer, die Unordnung am Schiff, die Ernährungsgewohnheiten anderer, der Wind, die Welle, der Regen, der Mitsegler. Ich habe es dieser, seiner übelnehmenden Grundhaltung zugeschrieben, dass ihm, dem geeichten Segler, vom ersten bis zum letzten Tag latent übel gewesen ist.

Die Lernfähigkeit der Schaltstelle wird gefördert durch alles was, oben Positives gesagt ist. Schließlich gibt es Medikamente, die an den verschiedensten Stellen dieser sehr komplexen Abläufe einwirken und die Situation entspannen. Damit wird Zeit gewonnen für das Lernen des Deutens im Gehirn. Die Wahrscheinlichkeit, Seekrankheit hinter sich zu lassen, kann dank Einnahme von Medikamenten steigen, im günstigsten Fall können nach einiger Zeit die Medikamente weggelassen werden, so der Lernprozess möglich war.

Das ist mein Stand der Erkenntnisse, zu denen ich nach reiflichen Nachdenken und Hinspüren gelangt bin. Ich komme damit gut zurecht.

Mehr dazu unter:  http://www.yachtclub-delphin-telfs.at/downloads/seekrankheit.pdf

und http://www.lau-net.de/baerlocher/daten/seekrank.htm

 

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